Lässt        Gott        sich        finden?

theo-Autor Sven Schlebes ist schon lange auf der Suche. Was hat er zu berichten?

5/2021

Changemanager lieben Geschichten. Die Lieblingsgeschichte meines Professors an der MIT Sloan School handelte von einem Trupp Soldaten, die sich während einer militärischen Übung im Gelände verlaufen hatten. Die Nacht war angebrochen, Gewitterwolken verdunkelten den Mond, Regen zwang die Versprengten zur Zufluchtnahme in einer Höhle fernab vom Gemeinschaftslager. Elektronische Hilfswerkzeuge: Fehlanzeige. Einzig eine alte Wanderkarte aus Papier habe den Verzweifelten zur Verfügung gestanden, um nach Hause zurückzufinden.
Die Soldaten studierten die Karte, entschieden sich für einen Weg und brachen nach Gewitterende noch mitten in der Nacht auf. Mit den ersten Sonnenstrahlen erreichten sie das Gemeinschaftslager. Freude auf allen Seiten. Beim gemeinsamen Frühstück legten die Versprengten die Karte vor, mit denen sie die Rückreise wagten: Sie stellte nicht das tatsächliche Gebirgstal dar, in dem die Übung stattfand, sondern ein Nachbartal. Der in der Höhle erkannte Weg entsprach nicht dem tatsächlich gegangenen. Als Wegweiser sei die Karte schlichtweg wertlos gewesen. Aber als Hoffnungsmoment unverzichtbar. Ohne die Karte, so mein Professor, hätte sich die Truppe nicht auf den Rückweg gemacht. Wir Menschen bräuchten einen Plan, um loszugehen. Auch wenn er sich im Nachhinein als falsch erwiese. Kein Plan, keine Hoffnung, kein Weg, kein Ziel, kein: Los!
Eine Geschichte eines alten Mannes über die Wichtigkeit einer zu Papier gebrachten Geschichte, der man vertraut und zur Grundlage nimmt für ein aktives Tun. In diesem Fall: Die Suche nach dem Zuhause.
Für viele meiner Mitstudenten war diese Geschichte bloß Episode. Enttäuschung. In dieser Unterrichtslektion gab es keine neuen Hilfswerkzeuge zu entdecken. Keine Tabellen auszufüllen. Keinen „Balance-Score“ zu erreichen. Ich liebte sie vom ersten Moment an, denn sie sprach zu mir: Das Gefühl des Versprengtseins. Die Nacht. Die Dunkelheit. Die Müdigkeit. Der Geruch des Waffenöls am Abzugfinger. Bedrohung. Lebenskampf. Ablaufende Zeit. Verzweiflung. Angst. Resignation. Ahnungslosigkeit.
Psychologen sagen: „Das ist das Trauma der Weltkriegsenkel und Vertriebenen. Alles da und doch heimatlos.“ Soziologen vermuten: „Das ist der Tribut einer Gesellschaft in Transition. Das Festival der Abstiegs- und Veränderungsängste.“
Sie mögen Recht haben, die Gelehrten und Gescheiten unserer Zeit. Angst vor Verlust ist allgegenwärtig: Wie gerne würde ich besitzen, etwas sicher haben: Geld, Erfolg, Erkenntnis. Das Zuhause-Sein in sich, der Welt, mit anderen. Alles an seinem Platz. Doch je mehr ich fühle, etwas zu haben, umso mehr entfernt es sich wieder. Verändert sich. Dinge verlieren ihre Bedeutung, Wahrheiten verändern sich. Menschen verändern sich. Selbst die, die dir am nächsten sind. Sie gehen aus der Tür und kommen wieder. Anders. Technik wird alt. Leben stirbt. Damit habe ich mich abgefunden. Und losgelassen. Nicht von dieser Welt sein, raten einem die spirituellen Weisen dann immer. Nur das Ewige verleihe wahre Sicherheit, ein echtes Zuhause. Gott zu suchen, bedeute, das wahre Leben zu finden. Mit Jesus Christus. Glauben wir Christen.
So wird es uns erzählt. So erzählen wir es weiter. Aber kennen Sie eigentlich unseren Gott? Genauer: Seinen Sohn? Haben Sie ihn gefunden? Oder vielleicht auch nur den heiligen Geist? Ist er mehr als Worte, Geschichte und eine bloße Ahnung für Sie? Wer sich einmal aufgemacht hat in die große weite Welt des Weltchristentums und der Religionen überhaupt wird feststellen: Gottkennenlernwege gibt es viele. Gottesnamen ebenfalls.
Ich liebe Geschichten. Aber ich gebe zu: Nach Jahren von unzähligen Gottesgeschichten bin ich ihrer überdrüssig. Worte. Gedreht, auseinandergezogen. Kunstvoll. „Nur ein Wort von dir“ heißt es im Bekenntnis. Aber welches?
Glaubt man der Bibel, befinden wir Menschen uns seit Adam und Eva auf einer Irrreise durch das Leben. Vertrieben aus dem Paradies, immer wieder verstoßen und zugleich gesegnet. Mit Regenbögen bedacht als Zeichen der Hoffnung und Nähe. Durch Jesus Christus bewohnt. Und doch wieder verlassen. Flüchtiges Leben. Irgendwo. Nirgendwo.
Wir Changemanager lieben noch eine zweite Geschichte. Wir nennen sie die zentrale Impulsgeschichte, wenn es um Führung in Veränderungssituationen geht: Exodus. Der Auszug aus Ägypten in fünf Akten. Einst Zufluchtsort für das Israel vor einer Hungersnot. Dann Gefängnis. Gott versprach ein neues gelobtes Land und suchte sich selbst einen „Durch-die-Wüste-Führer“: Mose. Der Mann hatte den direkten Draht zum Chef, sprach mit ihm auf wolkenverhangenen Bergspitzen und in brennenden Dornbüschen. Er konnte Meere teilen, Wasser aus Felsen hervorquellen lassen und „über“-natürlich wirken. Sein Auftrag: Menschen aus dem Zustand der „Gefangenschaft“ in die Freiheit zu führen. Aus den Kindern unter einem Pharao sollten erwachsene Menschen in Freiheit werden. Das gelobte Land: Selbstverwirklichung in Co-Creation mit Gott. Der Weg: 40 Jahre Wüste als Symbol für eine freiheitliche Leerstelle, die Möglichkeit und Verantwortung zugleich ist.
Selbstwerdung und Gottfindung als Wachstumsprozess. Individuell. Alternativ. Und das zusammen in einer Gemeinschaft. Der aktive Gott zieht sich Stück für Stück zurück und gibt Freiraum für uns Menschen. Und unsere „Gottesentdeckungen“.
Als ich im November meine Tochter mit ihrer Fussballmanschaft zu einem Spiel in den tiefsten Wedding begleitete, war der Himmel wolkenverhangen. Es nieselte. Am Abend zuvor hatten sie sich mit ihrem Trainer einen Spielplan entwickelt. Zum ersten Mal. Die Gegnerinnen waren erneut stärker und führten bereits zur Pause mit vier Toren. Doch anders als zuvor ließen die Mädchen die Köpfe nicht hängen. Sie feuerten sich gegenseitig an, beklatschten sich gegenseitig. Freuten sich über gelungene Einzelaktionen. Nach Wochen der Traurigkeit streiften sie die Ergebnisfixierung ab und begannen, das Spiel an sich und sich selbst zu genießen. Mit Freude, Fairness und Gemeinschaftssinn. Auf einmal schossen auch sie ein Tor. Sie feierten in der Niederlage den Gewinn ihres eigenen Durchbruches. Ihres eigenen Spieles. Ihres Teams.
Als wir im Auto zurückfuhren, lief ein Helene-Fischer-Special im Radio. „Maria durch einen Dornwald ging“ erklang. Gott ist einer von uns. Und er wird immer wieder geboren. Durch mich. Durch uns. Als Team –„Maria“. Freude ist sein Wesen: „Mit“-Freude als „Mit“-Lebendigkeit. Sie ist flüchtig. Aber wer sie einmal erlebt hat, weiß: Das ist es. Und spürt ein goldenes Pochen in seiner Mitte.
Beseelt fuhren wir nach Hause: „Und alle Dornen trugen Rosen.“ //