Die Poesie der Gerechtigkeit

5/2021

Der engagierte Katholik Thomas Quast ist Vorsitzender Richter am Landgericht Köln. Urteils- und Entscheidungsfindungen bestimmen seinen Alltag. Aber da ist noch viel mehr.

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Über die „Poesie des Tuns“ verfasste Heinrich Böll 1984 ein Gedicht für den Journalisten und Cap-Anamur-Gründer Rupert Neudeck. „Über die Schönheit der Künste, eines Menschen, der Natur können wir uns halbwegs einigen“, schrieb Böll. „Aber – Recht und Gerechtigkeit sind auch schön, und sie haben ihre Poesie, wenn sie vollzogen werden.“ Gerechtigkeit ist der rote Faden, der einen „Steinbruch“ von Gedanken, kurzen Texten, Aphorismen, Bibelworten und eben jenes Gedicht durchzieht, die Thomas Quast als Herausgeber seinem Werk- und Materialbuch für eine ökumenische Messe „Einer trage des anderen Last“ beifügte. Ein Zufall ist das nicht: Thomas Quast ist Richter am Landgericht Köln. Thomas Quast ist aber auch Musiker, Komponist, engagierter Katholik – die Schönheit der Gerechtigkeit, der Kunst, des Menschseins an sich ist sein Lebensthema.

Mit welchem inneren Kompass findet man in solche Himmelsrichtungen? „Na ja, ich komme aus einem hoch aufgeladenen Haushalt, was Engagement angeht, mit Antennen für das, was in einer Gesellschaft zu tun ist“, erklärt Thomas Quast, der in Köln als Sohn sozialpolitisch stark aktiver Eltern mit zwei älteren Brüdern und zwei jüngeren Schwestern aufwuchs. Dass man in solcher Konstellation den eigenen und einen möglichst ausgleichenden Ton zu finden lernt, ist für den 59-Jährigen klar. Als Schüler des Vinzenz-Pallotti-Kollegs in Rheinbach befeuerte ihn bereits Entdeckungslust, „das zu finden, was meins ist – auch in der theologischen Tiefe – das, was mir gegeben ist, und was ich damit machen könnte oder sollte“, sagt Quast. Dass er selbst Vater von drei erwachsenen Kindern ist, schimmert auf, wenn er etwas kritisch konstatiert, neben zig Aktivitäten und Aufgaben damals auch noch „irgendwie“ Abitur gemacht zu haben.   

Thomas Quast wirkt offen, locker, lädt zum Gespräch ohne Umschweife in sein Haus im Kölner Vorort Brück ein. Für unser Thema „Finden“ ist er bestens präpariert, spricht kontrolliert und druckreif über genau das, was er sagen möchte. Die „elterliche Prägung“ habe ihm vermittelt, „dass sich mit juristischer Sorgfalt einiges bewegen und erreichen“ lasse, erzählt Quast, also habe er begonnen, Jura zu studieren. Schon seit 1984 ist er aber auch Mitglied der bekannten Kirchen-Musikgruppe Ruhama, für die 1986/87 das erste eigene Musikstück mit dem Titel Ins gelobte Land schrieb, „das auch biografisch ein Suchen- und Finden-Stück ist. Ich wollte dieser musikalischen Begabung einen Raum geben.“

Nach dem Jura-Examen studierte Thomas Quast noch Musikwissenschaft „für das Handwerkliche“ und „aus Neigung“ Geschichte, ließ sich unter anderem vom befreundeten Hanns Dieter Hüsch die Zukunft als Berufsmusiker ausreden (zu ungewiss) und wurde nach dem Rechtsreferendariat begeistert Richter, ohne die Musik sein zu lassen: „Ex post zwei richtige Entscheidungen“, so Quast.

Weitere hat er seit über 25 Jahren im Namen des Volkes über andere zu fällen. Thomas Quast ist Vorsitzender Richter an der 1., 2., 4. und 5. Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Köln, die darüber entscheiden, ob verurteilten Straftätern ein Teil ihrer Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt und nach Ablauf der Bewährungsfrist erlassen werden kann. Als Vorsitzender der 3. Kleinen Strafkammer verhandelt Quast Berufungen gegen Entscheidungen der Amts-, Straf- und Schöffengerichte. Ein Prozess, den er hier leitete, erregte sowohl in der Öffentlichkeit wie unter Juristen besonderes Aufsehen: Quast verhandelte den Fall eines jungen Demonstranten, der am Christopher Street Day 2016 von Polizisten in Köln misshandelt und homophob beleidigt worden war. Angeklagt wurde Sven W. – wegen Widerstands gegen die Beamten und Beleidigung. Als er 2019 zum zweiten Mal vor Gericht stand, weil die Staatsanwaltschaft den Freispruch des Amtsgerichts nicht gelten ließ, verhandelte Thomas Quast den Fall, entschied auf Freispruch und bezog mit sichtbarer Rührung Position: „Ich schäme mich in den Grund, weil Leute Ihnen im Namen dieses Staates Gewalt angetan haben. Und ich bitte Sie für diesen Staat um Entschuldigung“ – eine Grenzüberschreitung für viele Kollegen.

„Es hat mich in dem Moment angepackt“, sagt Quast schlicht, der nichts davon hält, dass ein Richter qua Robe zum Staatssymbol ohne menschliche Berührbarkeit mutiert. „Ich habe mich immer wieder gefragt, bin ich da nicht zu kritisch? Die Entscheidung habe ich auch nicht allein getroffen, sondern mit zwei gestandenen Schöffinnen. Und ich habe eine anständige Urteilsverkündung von einer Stunde Dauer gemacht, da ist nichts aus dem Ruder gelaufen“, erklärt Quast mit Nachdruck. „Aber wozu ein Pokerface? Wäre es im Sinne des Rechtsstaats wirklich erstrebenswerter, wenn ich da – überzeichnet – einen Roboter sitzen habe?“

Wie findet Quast zu seinen Urteilen in den Verfahren, die er sich nicht aussucht, die „vorbeikommen, so wie Vieles im Leben vorbeikommt“? Nach dem intensiven Studium aller Unterlagen „gehe ich in den Termin. Mir ist immer wichtig, ich gucke mir den Menschen konkret an.“ Eines betont Thomas Quast ein ums andere Mal: „Aus meiner Sicht haben wir einen der bestmöglichen Rechtsstaaten.“ Das juristische Handwerkszeug mit dem sogenannten „Lebenssachverhalt“ in Übereinstimmung zu bringen: „Eigentlich nicht so schwierig.“ Er kaue es ein bisschen, erklärt Quast. „In dubio pro reo“, der Freispruch im Zweifelsfall, sei nicht immer schön. „Aber die Überzeugung, dass wir aus guten Gründen diese Grundsätze haben, ist unglaublich entlastend.“

Das Bibelwort „Keiner erhebe sich über den anderen“ ist das Leitmotiv, das Thomas Quast in seiner Arbeit trägt; das zufällige Glück der eigenen Lebensumstände ist ihm sehr bewusst: „Unter anderen Umständen oder in einem anderen politischen System säße ich da auf der Anklagebank.“ Lange Zeit verhandelte er medizinische Haftungsfälle. Nicht leicht etwa der Umgang mit Hinterbliebenen, denen er vielleicht sagen musste, dass ihr Klagebegehren wegen eines Behandlungsfehlers abgewiesen wird. „Aber so jemand sollte wenigstens nachher sagen können, der hat mich angesehen und wahrgenommen in meinem Leid, das ist mein Anspruch.“ Arzthaftungssachen litten oft an mangelnder Kommunikation, Patienten und Angehörige fühlten sich nicht ernst genommen, angehört und verstanden. Dass das – auf den weiten Bogen lässt Quast sich ein – auch eines der Probleme zwischen den Kölner Katholiken und ihrem Kardinal Reiner Woelki sein mag, der sich stets hinter (juristischen) Sachlagen verschanzt? „Das kann man sicher so sehen.“

Sich zu zeigen, als authentisch erlebbar zu sein, „das nimmt nichts davon weg, dass ich schwierige Entscheidungen treffen muss“. Das gelte für ihn wie für einen Erzbischof, so Quast, der sich selbst als „ökumenisch-katholisch“ bezeichnet, spirituell in katholischen wie evangelischen Gemeinden verankert ist und sich als „Suchender“ sieht. „Ich habe Sehnsucht nach einer Kirche, wo dieses Spätmonarchistische und Absolutistische endlich Vergangenheit ist. Was ich mir wünsche, ist eine Kirche, die nach dem Evangelium lebt, den Menschen in den Nöten und sich verändernden Umständen ihrer Zeit Halt und Orientierung gibt und dieses ganze Brimborium einfach weglässt!“ 

Es gilt, den richtigen Ton zu finden, das ist im Gerichtssaal nicht anders als im Leben und der Musik, die Thomas Quast mit Ruhama äußerst erfolgreich macht. Über 250 geistliche Lieder hat Quast komponiert, Messen, Musicals, kabarettistische Songs; nicht wenige davon in Kirchenkreisen Riesenhits wie Keinen Tag soll es geben. Ruhama tritt auf bei Großveranstaltungen und hat zahlreiche CDs veröffentlicht, soeben passgenau „Stern – Lieder zur Weihnacht – und von aller Epiphanie“. „Aus den Ewigkeitsregionen Gottes ist diese Musik bei mir vorbeigekommen“, benennt Quast seine kompositorische Mission: „Ich darf sie aufschreiben und weiß mit meinem Handwerkszeug, was ich da tue.“ Mit dem Theologen und Musikkollegen Thomas Laubach schrieb er einen gesungenen „Weg-Ruf“, Soundtrack für den Synodalen Weg: „Denn alle Veränderung, alle Entwicklung braucht auch Lieder, die genau davon erzählen.“ Dass man das als ein bisschen subversiv verstehen könnte, ist durchaus Absicht – Quast hat auch eine kabarettistische Ader, wie überhaupt der Humor für ihn auch in der Kirche und im Sitzungssaal dazugehören. Fröhlich stehe er auf, „ganzkörperfröhlich“ gehe er durch den Tag, sagt Quast und lacht.    

Vielleicht findet er damit auch Kraft für sein vielfältiges Engagement: Als Mitglied von Pax Christi und dem 1. FC Köln, als Vorstandsmitglied von donum vitae und dem neu gegründeten Kölner Verein „Arche für Obdachlose“.  „Ich als Mensch in dieser von mir als sehr privilegiert empfundenen Position kann und will und werde mich nicht damit abfinden, dass andere Menschen mit anderen Lebenswegen an so einer Stelle sind und bleiben. Damit dürfen wir uns als Gesellschaft insgesamt nicht abfinden.“ Menschenwürdiges Leben, so Quast mit Verve, umfasse auch den Anspruch auf mindestens einen eigenen Raum mit eigener Dusche und WC. „In einem reichen Land wie Deutschland ist es ein Skandal, dass das nicht so ist.“ Da ist sie wieder, die Schönheit der Gerechtigkeit.  //