Zurück
in die Einheit

Ein christlicher Orden hat die Unsichtbarkeit früh zum Prinzip erklärt: Sven Schlebes über die Kartäuser, die geheimnisumwitterten Kapuzenmenschen.

3/2022

in Kind ist! Es schläft, wenn es schläft, es lacht, wenn es lacht. Bis es das vergisst, weil es zu viel weiß. Dann lernt es sie kennen: die großen und die kleinen Ängste. Das nennt man dann „Erwachsen-Werden“. Dieser Weg ist nicht umkehrbar. Einmal gegangen, ist der Mensch nicht mehr, der er war. Er ist herausgefallen aus der gelebt-bewußten Einheit mit dem, was ist – und landet in der Wüste.
Die Wiedervereinigung mit dieser Einheit, oder wie wir Christen glauben, mit Jesus Christus, wird von Mystikern in allen Religionen oft mit dem Bild der „Hochzeit“ umschrieben. Der Vereinigung des manifesten Lebens mit einer innewohnenden, sich selbst entwickelnden und erkennenden, sogenannten „transzendenten“ Absolutheit – in Freude, Liebe. Und jubilierender Stille. Es ist ein bewusstes Ja zu einem großen Mysterium: dem Leben, seinem Ursprung, seinem Verlauf und seinem Ziel.
Das klingt abgedreht und mittlerweile fast schon phrasenhaft, totgedroschen auf Instagram und TikTok. Und doch wagen nur sehr wenige Menschen diesen Schritt in die permanente Begegnung mit dem Unbekannten.
Dass das am ehesten funktioniert, wenn das äußere Leben möglichst einfach ist, haben Menschen in allen Religionen entdeckt und spirituelle Lebensformen entwickelt, die auf der einen Seite den Notwendigkeiten des materiellen Lebens Genüge leisten, auf der anderen Seite der inneren Arbeit genügend Platz zur Entfaltung geben.
Im Christentum haben – neben ihren zahlreichen sozialen, politischen und kulturellen Funktionen – die Orden diesen Ansatz verfolgt: Leben in Einheit mit Jesus Christus. Und weil Menschen unterschiedlich sind, folgen die Ausprägungen des Ordenslebens dem Charisma ihrer Gründungsmütter und -väter.
Als sich mit Beginn des Hochmittelalters (11. – 13. Jahrhundert) die Christianisierung Westeuropas durchgesetzt hatte und die strukturelle Kirche sich an vielen Stellen im Machtkampf mit den weltlichen Herrschern befand, haben Menschen in Abkehr davon nach Antworten gesucht, der Nachfolge Christi möglichst authentisch Ausdruck zu verleihen. Es war die Hoch-Zeit der Ordensgründungen.
Bruno von Köln war einer von ihnen. Er leitete über zwanzig Jahre als Rektor die Kathedralschule von Reims. Als 1080 der höchst weltlich agierende Erzbischof nach zahlreichen Querelen von Papst Gregor VII. abgesetzt wurde und Bruno als möglicher Nachfolger gehandelt wurde, suchte er irritiert mit sechs Gleichgesinnten die Einsamkeit der Chartreuse auf, um dort mit Einverständnis des Bischofs von Grenoble ein Kloster aufzubauen: Als Gegenentwurf der erlebten Eitelkeit in den urbanen Zentren. Im Geiste der Spiritualität der Wüstenväter errichtete sich dort jeder eine eigene Wohnstätte (Eremitage), um fortan als Gemeinschaft der Einsamen den beständigen Weg der Begegnung mit Christus zu verwirklichen. Eine Kirche und weitere Gemeinschaftsräume wurden über einen Kreuzgang miteinander verbunden: Das Herz der heutigen „La Grande Chartause“/der Großen Kartause begann zu schlagen.
Nachdem 1170 Papst Alexander III. die Kartäuser als Orden anerkannte, begann die rasche Ausbreitung in Europa. Auch Frauengemeinschaften bildeten sich heraus. Zur Blütezeit der christlichen Mystik im 15. Jahrhundert gingen Nonnen und Mönche in über 220 Kartausen dem kontemplativen Lebenswandel nach. Sowohl in ländlich abgeschiedenen Gebieten, aber auch in den sogenannten neumodernen Stadtkartausen in Metropolen wie London lebten sie die innere Freiheit eines Christenmenschen und den Geist des sich entwickelnden Humanismus im Zuge der Devotio moderna.
Grundlage der kartausischen Spiritualität war und ist der Versuch, in Zurückgezogenheit und Stille Gott zu suchen und zu finden. Den liturgischen Mittelpunkt dieser permanenten Reise bildet das eucharistische Opfer, durchgeführt von den Priester- oder auch Chormönchen genannten Patres einer Kartause, die die durch den Kreuzgang miteinander verbundenen Eremitagen bewohnen.
Hier arbeiten sie, empfangen ihr Essen, widmen sich den permanenten Schriftstudien und beten. Sie schlafen auf Stroh, heizen mit Holz.
Damit diese spirituelle Arbeit möglichst ungestört und permanent ablaufen kann, leben neben den Patres sogenannte Brüdermönche in den Kartausen: Sie erfahren ihre Spiritualität vor allem in der Berufung zum Dienst am Anderen in den Küchen, Werkstätten und Gärten der Kartausen: Während die Patres ihnen die Sakramente spenden, versorgen die Brüder sie mit den Notwendigkeiten des äußeren Lebens. Eine Lebensweise, die sowohl symbolisch als auch spirituell die sich als Einsame begreifenden Mönche in einer sich gegenseitig unterstützenden Gemeinschaft zusammenhält, deren Sinn und Tun allein auf das Gebet hin ausgerichtet ist.
Eine Lebensweise auch, die angesichts einer Menschheit, die von einer permanent miteinander verwobenen Welt im Internet der Dinge und der intelligenten Maschinen träumt, kaum gegensätzlicher wirken könnte. Hier die Verbundenheit sich selbst überwachender, menschlich-künstlicher Systeme durch Chips und Monitore in einer immer dichter werdenden Homo
Faber-Welt. Dort die spirituelle Verbundenheit des selbstvergessenen Einsamen durch Christus mit dem Absoluten und dem Konkreten zugleich.
Das erinnert an Star Wars und die Lichtschwerter schwingenden Jedis. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, das Schwarz und Weiß des Yin und Yang. Herausgefallen aus der Einheit sind alle. Mehr Zukunft scheint der Körperchip zu versprechen und nicht der Kapuzenmann mit Sandalen und vegetarischer Ernährung. Doch wie heißt es durch alle Jahrhunderte hindurch: Gottes Wege sind unergründlich und bedingen einander gegenseitig.
Vor gut 1.000 Jahren gab es schon mal eine spirituelle Transformation mit einer neuen inneren Blütezeit. Und der Sonnenaufgang war und ist da. Sowohl in der metaversen Stadt als auch über der Abgeschiedenheit der Kartause.
„Stat Crux dum volvitur Orbis“ – Das Kreuz steht fest, während die Welt sich dreht. //

www.chartreux.org

Foto: Wenceslas Holler